Geboren als Linkshänder in Marburg, aufgewachsen in Frankfurt hat Peter Seidel Germanistik, Anglistik und Filmgeschichte studiert, um dann als fotografischer Autodidakt in einer Reihe von Werbestudios durch die harte Schule der Assistenz zu gehen. Es folgten drei Jahre der fotografischen Mitarbeit im Historischen Museum in Frankfurt, während der er seine Sinne schärfte für die Energien, Kräfte, die originalen Gegenständen, Dokumenten und Orten innewohnen, hier besonders die wenigen persönlichen Dinge der ermordeten Anne Frank. 

 Daneben begann er, freie Projekte zu entwickeln, meist Themen, die zuvor kaum Beachtung fanden, nicht die Projektionsflächen der Ferne waren sein Ziel, vielmehr entwickelte er eine Sensibilität dafür, die Exotik des Naheliegenden, der Nachbarschaft zu erforschen. Archäologie des Alltags. Er war der Mastermind für das freie Projekt Hessen – Denkmäler der Industrie und Technik, mit dem Ziel, das Vorurteil wegzuräumen, daß dieses Bundesland nur aus Bäumen besteht, um die Frauen in zeitentrückten Trachten herumtanzen, während sie saure Milch aus gesprenkelten Tassen trinken. Die Hessen füllten als Ausstellung u.a. 1987 das Erdgeschoss des Deutschen Architekturmuseums, was ihm den Auftrag einbrachte, für das Hochbauamt der Stadt fünf Neubauten des Museumsufers zu dokumentieren, Jüdisches Museum, Liebieghaus, Vor- und Frühgeschichte, Ikonenmuseum, MMK Museum für Moderne Kunst.  

Zeitgleich entzog er sich der Öffentlichkeit, um als erster Fotograf nach dem Franzosen Felix Nadar in den fünfziger Jahren des 19.Jh. den Untergrund als Thema zu belichten, das schrieb Peter Sager in DIE ZEIT. Ihn trieb die Frage um, was Menschen dazu gebracht hat, teils mit extremem Aufwand, ihr Tun oder Dinge unter die Erdoberfläche zu entlagern. Wie die zahllosen Bunker, von denen die Staatssicherheit der DDR sich einbildete, im Falle eines feindlichen Angriffs mit ABC-Waffen könnten dort die systemrelevanten Persönlichkeiten hinter blumigen Plastevorhängen mit der Handbrause die tödliche Kontamination abspülen. Unterwelten – Orte im Verborgenen nahm als Ausstellung 1993 ihren Anlauf im historischen Abwasserklärwerk in Frankfurt-Niederrad, der Ort, an dem damit die vermutlich erste Ausstellung in einer Kloake stattfand. Die anschließende Tour brachte die Fotografien u.a. nach Moskau, Wien, Guangzhou und in die Kunsthal Rotterdam. 

In Friedberg tauchte Peter Seidel 1987 in ein großartiges jüdisches Ritualbad ein, die Mikwe aus dem Jahr 1260. Daraus wurde ein weiteres Projekt mit Fotos aus Deutschland, Italien, Österreich, Spanien und Frankreich, das seit 2010 als Ausstellung Ganz rein bisher 15 Stationen im In-und Ausland hatte.1993 – 1999 entstanden mit Großbildtechnik Architektur-Porträts Oben – Türme und Hochhäuser der Stadt Frankfurt am Main.Heimat ist da, wo meine Bilder sind. Die Stadt Venedig ist für ihn ein solcher Ort,ihr hat er ein Denkmal gesetzt mit einer Schwarz-Weiß-Serie, wie er sagt Lichtskulpturen, herausgearbeitet aus dem Hintergrund der Nacht. In der ihm diese Herren stellvertretend zur Seite standen: Giorgio de Chirico, Giambattista Piranesi und Edward Hopper.

Seine Arbeiten befinden sich in öffentlichen und privaten Sammlungen in Europa und den USA.

Edward Hopper 1882-1967, Gemälde und Zeichnungen, Texte von Gail Levin, Schirmer und Mosel Verlag 1981.

Gail Levin hatte als Kunsthistorikerin im Whitney Museum New York die Aufgabe, den Nachlass von Hopper und seiner Frau Jo, ebenfalls aufzuarbeiten.

Der Katalog zu Hopper’s erster Ausstellung in Düsseldorf, den mein Freund Fritz T. mitbrachte. Angesichts dieses Werks begann ich mich überhaupt erst für Kunst zu interessieren. Da fand ich Zugang zu einem Maler, der nur scheinbar belanglose Situationen seines eigenen Alltags oder dem seines Umfeldes zwischen New York und der Ostküste Wertschätzung entgegengebracht hat, indem er ihnen ein Gemälde gewidmet hat. Definiert durch unkonventionell komponierte Räume, radikal angeschnitten, oft banale Umgebungen mit geradezu herausfordernden Farben, die seine vielfach einzelnen Protagonisten noch viel blasser und einsamer erscheinen lassen. In ihrem Kosmos, in dem die Grenzen zwischen Innen und Aussen aufgehört haben, zu existieren und sich Jeder gleichzeitig in der Rolle von Darsteller und Zuschauer wiederfindet.

Fritz starb zu früh, er vermachte mir den Katalog. Einige Jahre später war die Autorin Gail Levin, mittlerweile Professorin, Gast für ihren Vortrag im Amerikahaus in Frankfurt, wir lernten uns kennen, ich zeigte ihr meine Ausstellung Unterwelten im Klärwerk, seitdem haben wir regen Austausch bei unseren Aktivitäten. Für meinen Katalog Ganz rein – Jüdische Ritualbäder, Holzhausen Wien 2010 (vergriffen) schrieb sie einen Essay.

Das Foto zeigt sie bei Ihrem Besuch 2019 in Frankfurt, als sie endlich auch das Erste ihrer Bücher, den Edward Hopper für mich signierte.

Cape Light – Colour Photographs by Joel Meyerowitz, Texte Clifford S. Ackley, Interview Bruce K. Mc Donald, New York Graphic Society, 1978

Einen Text über den Auslöser Joel Meyerowitz zu schreiben, ohne den Maler Edward Hopper zu erwähnen, ist zwar möglich, aber sinnlos. Fast könnte man meinen, sie seien Vater und Sohn, beide Bilderbuch(!)-New Yorker, äußerlich hochgewachsene Erscheinungen, Charakterköpfe ohne verschleierndes Beiwerk, deren Augen die Erscheinungen der Welt einscannen, bei Meyerowitz gepaart mit präsenter Körpersprache, einem Nussknacker nicht unähnlich. Sie mögen mir verzeihen.

Joel Meyerowitz, ebenso wie Edward Hopper, ein visuelles Füllhorn an Inspiration, das er als sein Oeuvre in Bildbänden wie Saint Louis and the Arch, Tuscany, Redheads, Aftermath, Ein Sommertag u.a. vor uns ausgeschüttet hat. Ursprünglich von der 35mm-Straße kommend servierte er uns in Cape Light großformatiges oft scheinbares Nichts, heute vier Jahrzehnte später längst als Sujets ganzer Fotografen-Generationen vom Publikum wohlwollend abgenickt. Damals Avantgarde. Der Himmel überm Meer, mal Grau und Pink, mal Orange, sogar Blau, mehr nicht. Doch geradezu von barocker Üppigkeit, verglichen mit den leergefegten lichtgrauen Seascapes des Kollegen Hiroshi Sugimoto. Bei Meyerowitz auch ein Straßenkreuzer am Rand, die Türen offen, die Leuchte funzelt nach aussen. Dämmert es, was ist passiert, was wird passieren? Die Tiefe aufschürfende Fragen, die uns Gregory Crewdson später oft genug stellt; die nächste Szene mit beinhartem Licht im leeren Zimmer, wie beim Zeitgenossen William Eggleston, friert hier sogar der Ventilator, oder das gnadenlos ekelhafte Grün einer neonüberzogenen Tankstelle aus einer längst abgelebten Zeit, aus der der Schriftsteller Charles Bukowski auftauchen könnte, unter dem Arm drei TK-Hähnchen, die er beim Sixpack am selben Abend mit seiner sehr frischen Bekanntschaft verzehren wird. Dann ein Strandabschnitt, auf dem sich eine Formation Badender im Sand räkelt, der Maler Eric Fischl, noch ein New Yorker, hat daraus in den 1980ern seine Meisterwerke entwickelt, wenn auch mit stärkerer gesellschaftlicher und politischer Aufladung. Unübersehbar war Meyerowitz in die Eckpfosten der Porch eines Wochenendhauses an der Ostküste, die als Cache fürs Foto herhielten, als das Meer noch als der einzige Infinity-Pool anerkannt wurde. Windschiefe Telegrafenmasten als Raumteiler, wie bei den Hopperschen Scheunenporträts, in denen die hochbeinigen Limousinen der keineswegs nur goldenen 1920er Jahre wie Käfer die Road by the coast entlangkletterten. Dazwischen hat der Mann leise, ja intime Bilder von Frauen gestreut die sich dem Blick des Betrachters durch den Fotografen hindurch stellen, Vertrauensbeweise, die Beiden haben das Geheimnis miteinander, worauf sie gründen. Nicht selbstverständlich. Who are you? Etwas, wovon Fotografen heutzutage ein Lied singen können, wenn sie in der blockierten Fuzo angesichts einer Phalanx erkenntnisloser Corona-Negierer stehen. Nix Vertrauen, nix Bild.

Im gleichen Sommer, als ich des Bandes Cape Light habhaft wurde, strandete ich mit einem Urlaubsmotiv im Kopf auf der Insel Fünen in Dänemark, es war die heißeste Saison, soweit die Dänen zurückdenken konnten. Morgens um 9 flogen alle paar Meter die Haustüren der alten Fischerhäuser auf und entließen Menschen, die sich faxegesteuert in Schlangenlinien auf ihren Gehweg machten. Zelten und Baden war angesagt, da kam uns der Strandvej gerade recht. Daraus wurde nichts, beidseitig war der Weg zugestellt mit kleinen Sommerhäuschen, die sogar den Blick zum Meer mit Zäunen und Sichtschutz fast komplett verwehrten. Der Kamm schwoll, mein Ärger wurde so groß, daß ich beschloß, daraus mein erstes Projekt zu machen, Sublimierung wie aus dem Lehrbuch gestolpert. Mein Konzept war, jedes Haus einzeln frontal aufzunehmen, gleiche Brennweite, gleicher Abstand, gleicher Ausschnitt, ganz straight, EL2, Stativ. Das bis heute unveröffentlichte Kerteminde Projekt, bei dem nicht nur das ganze ohnehin schlanke Budget dafür draufging, daß ich sämtliche Kodachrome-Kontingente Skandinaviens aufkaufte. Im Kunstforum Düsseldorf konnte ich anläßlich seiner Ausstellung Joel Meyerowitz für die Inspiration danken. Einem Kreativen, bis heute mit über 80 Lebensrunden voll aufgeladene Akkus, doppelsinnig ein Vorbild.

Susan Sontag: Über Fotografie, Hanser Verlag 1978

Mit dem Ende der bleiernen Zeit während des Vietnamkriegs fanden kritische Intellektuelle in der US-amerikanischen Gesellschaft endlich wieder offene Ohren. Eine von ihnen, die besonders auch in der deutschen Öffentlichkeit auf Resonanz traf, war die in New York verwurzelte Publizistin Susan Sontag. Ihr erfolgreiches Buch über die gesellschaftlichen, politischen und individuellen Funktionen der Fotografie entstand aus eigenen Essays, die sich einer aus dem anderen heraus entwickelten. Eine ihrer kontrovers diskutierten Thesen war, daß das Medium letztlich nur dazu limitiert sein könne, den Status Quo zu zementieren, also nicht verändernd, sondern lediglich die Wirklichkeit zu bestätigen in der Lage sei.
Die Gegenposition vertrat der reisende Däne Jacob Holdt mit seiner zeitgleichen Publikation Bilder aus Amerika – Eine Reise durch das schwarze Amerika S.Fischer Verlag 1978, indem er die Lebensgeschichte vieler Farbiger aufgezeichnet hat, die am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala ums nackte Überleben kämpfen mussten. Bewegende Einblicke in das Leben von Menschen, deren Gastfreundschaft man ihm immer wieder zuteil werden ließ und die seinen Lesern unter die weiße Haut gingen. Jacob Holdt habe maßgeblichen Anteil daran, daß wir in der Bundesrepublik jetzt auch mit der Gesäßseite des American Dream konfrontiert wurden. Die Fassade der klischeehalten Bilder von einem Land der Freiheit, indem die männliche Feierabendbeschäftigung darin bestand, mit einer Zigarette im Mundwinkel dem Sonnenuntergang entgegenzureiten, für Frauen, sich gegenseitig in der religiös verklärten Solidargemeinschaft der Tupperware-Afficionadas zu missionieren. If paradise is half as nice. Auch Fotografen begannen auf ihren Reisen durch Nord-Amerika, ihre Sucher nach neuen Horizonten hin zu öffnen.
Bereits damals vertrat Susan Sontag die radikale Position, daß sich ein Fotograf, vor die Alternative gestellt, sich für das Leben eines anderen einzusetzen oder ein herausragendes Foto machen zu können, sich gegen den Menschen und für das Foto entscheiden wird.
Diese These, bereits vor über 40 Jahren im Geiste dieser kritischen Denkerin entstanden, haben bis heute keinen Funken ihrer Aktualität verloren. In einer Zeit des schwer zu übersehenden teilweisen Niedergangs der Menschlichkeit, in der angesichts von blockierten Rettungsgassen das lebenserhaltende Eingreifen unmöglich gemacht wird, um stattdessen on location der Katastrophe eines einer Anderen zu Selfies und anderen bluttriefenden Jagdtrophäen zu kommen. Genau hier z.B. kann und muß Fotografie eingesetzt werden. Als Beweismittel.
Kurz unsere Begegnung in der Frankfurter Paulskirche 2003 bei der Ehrung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, es bleiben ein paar Worte, mutmachende Gesten, ihr Lachen.