“ich stehe teilweise stundenlang neben derselben Straßenkreuzung und bin völlig exponiert. Es staubt, der Lärm lenkt ab und ich frage mich in solchen Momenten, warum ich nicht einfach digital oder wenigstens auf Film fotografieren kann.”

Niklas, Du bist am Bodensee aufgewachsen und hast dort lange gearbeitet. Was hat Dich in Deine neue Heimat Frankfurt verschlagen und wann hast Du die Fotografie für Dich entdeckt?

Meine Eltern hatten National Geographic- und Geo-Magazine abonniert. Die Fotoreportagen darin erzählten für mich als kleinen Jungen, neben den Asterix-Heften, spannende Bildergeschichten über mir unbekannte, geheimnisvolle Welten und Dinge.
Mein Vater hat lange Zeit unser Familienleben mit der Kamera dokumentiert, teils die Bilder selbst entwickelt und vergrößert.
Dia-Abende waren für uns immer ein Riesenspaß, nicht zuletzt, weil wir nur einen klapprigen Schwarzweißfernseher hatten, der meistens sowieso nicht funktionierte (das blieb so bis zu den Olympischen Spielen 1988).
Irgendwann wollte ich dann natürlich selbst fotografieren.
Mit 11 Jahren hatte ich meine erste Dunkelkammer in der Waschküche. Von da an ließ mich die Fotografie nicht mehr los. Zwar studierte ich Jura und arbeitete ein paar Jahre als Jurist, fotografierte aber als Ausgleich dazu mehr als je zuvor. So war es fast unvermeidbar, dass ich eines Tages die Juristerei an den Nagel hängte, um mich nur noch mit Fotografie zu beschäftigen. Trotz einiger Durststrecken, die darauf folgten, war das eine Entscheidung, die ich nicht bereut habe.

Nach Frankfurt kam ich, weil ich damals für eine Friedrichshafener Firma 3D-Photogrammetriescanner mitentwickelte und wir in Frankfurt ein 3D-Scanstudio aufbauten. Von der Lebendigkeit der Stadt war ich sofort begeistert. Als ich dann eines schönen Sommerabends am Main meine Frau kennenlernte, wars um mich geschehen. Mittlerweile leben wir hier mit unseren beiden Kindern als überzeugte Wahl-Frankfurter.
In der Nähe des Hauptbahnhofs fand ich einen Atelierraum mit Dunkelkammer und stürzte mich – von allen guten Geistern verlassen – in das verrückte Abenteuer der Nassplattenfotografie.

 

Im Sommer 2020 hattest Du ja mit „Tin City“ eine sehr erfolgreiche Ausstellung im 1822-Forum in Frankfurt, letztes Jahr waren die Bilder als Teil der Ausstellung „Lockdown Corona“ in der GAF in Hannover zu sehen. In einem Textbeitrag für den Katalog zu „Tin City“ schreibt Kristina Lemke: „Görke huldigt im Zeitalter der massenhaften Smartphone-Schnappschüsse der Einzelbildfotografie, für die jedes Bild noch ein Unikat ist“.
Bezieht sie sich mit dieser Aussage darauf, dass Du mit einer Großbildkamera arbeitest und auf die Kollodium-Nassplattentechnik, die Du verwendet hast?

Nassplatte-Kollodium ist ein unglaublich langsames, kompliziertes und fehleranfälliges fotografisches Verfahren. Deshalb endete seine kurze Blütezeit von ca. 1850-1890 in der allgemeinen Fotografie schnell mit dem Aufkommen schnellerer und sicherer Verfahren, die es erlaubten, das Bildmedium jederzeit aufnahmebereit mitzuführen und es später in aller Ruhe zu Hause in der Dunkelkammer zu entwickeln, wie z. B. beim Film.
Die Empfindlichkeit einer Kollodiumplatte liegt bei ca. ISO 0,5-1, dies bedingt schon einmal lange Belichtungszeiten, die ich nur schätzen kann. Der gesamte Aufnahmeprozess dauert ca. 20 Minuten. Wenn die Platte dennoch nicht gelungen ist, fange ich wieder von vorne an, die nächsten 20 Minuten laufen. Daher muss ich vorher die Perspektive möglichst gut eingezirkelt, andere Perspektiven bedacht und wieder verworfen haben, bevor ich schließlich die Großformatkamera sorgfältig einstelle, weil ich nun meine, hier lohnt es sich. Allein das kann lange dauern. In der Aufbauzeit und zwischen den Aufnahmen verändert sich das Licht, ändert sich die Szenerie. Oft breche ich dann ab, aber hin und wieder geschieht plötzlich etwas Magisches, was die Szene erst spannend und zu einem Bild macht. So bewusst ich also die Aufnahme plane – im Gegensatz zum (Handy-)Schnappschuss – so sehr eröffne ich dem Zufall eine Bühne.
Zum Unikat wird eine solche Platte, weil das Bild direkt als Positiv entsteht (bei Aluminiumplatten) und nicht reproduzierbar ist. Eine zweite Aufnahme sähe, wegen der Unvorhersehbarkeit der chemischen Reaktionen, ganz anders aus. Das ist dieses eine Bild, entstanden aus der Reaktion von Silberhaliten und Photonen. Um das Bild betrachten zu können, muss ich es nicht erst vergrößern oder in ein Positiv umwandeln, projizieren oder einen Abzug in einen Bilderrahmen klemmen. Die Platte kann ich so, wie sie ist, in die Hand nehmen oder auf das Kaminsims stellen. Das Bild auf der Platte wird damit zu einem Objekt, das es so nicht noch einmal gibt. Das finde ich ungeheuer spannend.
Natürlich kann ich heutzutage die Platte scannen, was wegen des fast nicht vorhandenen Korns sehr gut geht. Mit den Dateien lassen sich riesige Prints anfertigen und das Bild mit allen seinen einzigartigen Fehlern und Verarbeitungsspuren in eine andere Stofflichkeit überführen. Hier schließt sich wieder der Kreis zur Moderne.

 

Die Aluminiumplatten werden ja unmittelbar vor der Aufnahme lichtempfindlich beschichtet und sofort nach der Belichtung entwickelt, wie kann ich mir das vorstellen, wenn Du unterwegs bist?

Es heißt nicht ohne Grund „Nassplatte“. Die chemischen Prozesse funktionieren nur, solange die vor der Aufnahme aufgegossene und sensibilisierte Beschichtung der Platte nicht getrocknet ist. Nur dann ist die Schicht einigermaßen lichtempfindlich und reagiert der Entwickler mit dem in der Schicht gelösten Silber.
Weil ich unbedingt mitten im engen Frankfurt auf Nassplatte fotografieren wollte, habe ich mir für mein Lastenfahrrad ein Mini-Fotolabor gebaut. Damit komme ich überall hin und kann eben an Ort und Stelle alle Verarbeitungsschritte durchführen.
Allerdings: Was schon im Studio nicht einfach ist, wird draußen auf der Straße eine wilde Sache oder funktioniert oft gar nicht. Der Einfluss der Witterung auf den Prozess ist viel größer, ich stehe teilweise stundenlang neben derselben Straßenkreuzung und bin völlig exponiert. Es staubt, der Lärm lenkt ab und ich frage mich in solchen Momenten, warum ich nicht einfach digital oder wenigstens auf Film fotografieren kann.
Nur: Der Moment, eine gelungene Platte aus dem Fixierer zu nehmen und dieses Bildobjekt in der Hand zu halten und zu betrachten, ist sehr befriedigend. Dann ziehe ich weiter oder radle mit meinem Schatz zurück ins Studio.
Ein Sprichwort unter NassplattenfotografInnen lautet bezeichnenderweise: „Eine gute Platte machst du nicht, sondern sie wird dir gegeben.“

 

Was war für Dich der Reiz, mit diesem historischen Aufnahmeprozess eine moderne Stadt wie Frankfurt zu fotografieren. Du versetzt damit Frankfurt nur scheinbar in die Vergangenheit zurück, was willst Du zeigen?

Zunächst war ich nur neugierig. Funktioniert das überhaupt, diesem Großstadtgetriebe mit einem so sperrigen und fehlerbehafteten Aufnahmeverfahren zu begegnen – sowohl technisch als auch visuell? Wie wirkt das heutige Frankfurt auf Fotografien, die mit dem gleichen Verfahren aufgenommen werden, das Carl Friedrich Mylius nutzte, als er gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Kollodium-Nassplatten und seinem Laborhandwägelchen durch die Stadt zog?
Die Bilder sind (als Direktpositive) spiegelverkehrt und das Ganze sieht vielleicht aus wie Chicago im 19. Jahrhundert, wozu allerdings die modern-vertrauten Gebäude nicht so recht passen. Es ist ein Vexierspiel mit unseren Assoziationen und überkommenen Sehgewohnheiten, das dazu zwingt, die Fotografien auf den Platten zeitlich und räumlich zu entwirren und die Stadt gedanklich neu zusammenzusetzen. Und es zeigt so auch, was von unserer Moderne danach übrigbleibt.
Darüber hinaus ist es für mich schlichtweg eine fotografische Möglichkeit, zwar mit der Präzision einer Großformatkamera, aber mit den Verarbeitungsspuren, den Bildfehlern und dem Staub auf einer Platte auch das Chaotische und Vorübergehende der Stadt zu transportieren.

 

Bietest Du ausschließlich die Unikate auf Aluminiumplatten im Format 9 x 12 cm (teilweise 13 x 18cm) an, oder gibt es zusätzlich zu den Bildplatten noch geprintete Editionen?

Es gibt von den meisten Platten eine Printedition in verschiedenen Formaten. Wie schon gesagt, haben wir im 21. Jahrhundert die Möglichkeit, die Platten zu scannen und groß zu drucken. Das ist eine faszinierende Art und Weise, die Plattenfotografien auf einem anderen Träger in allen Details neu zu erleben. Die Fotografen im Jahre 1860 konnten das nicht.
Wann kam bei Dir der Entschluss, von der kommerziellen Fotografie in die Kunst zu wechseln, und warum?
Der Wunsch danach verstärkte sich während der Vorbereitung der Ausstellung zu „TinCity“. Ich habe das Fotografieren noch nie so intensiv erfahren wie in dieser Zeit, als ich mich ausschließlich auf dieses Projekt konzentrierte und Nassplattenfotografie auf der Straße mit allen Höhen und Tiefen rauf und runter betrieb. Das ist es, was ich weiter machen will. Etwas, was mich in seinen Bann zieht, in Fotografie zu übersetzen.
Auf Auftragsarbeiten werde ich noch nicht verzichten können. Und mit manchen Kunden verbindet mich eine längere Zusammenarbeit, die weiter bestehen bleibt.

 

Was ist denn Dein nächstes Projekt, wenn ich fragen darf? Bleibst Du Chronist der Stadt Frankfurt oder zieht es Dich noch an andere Orte?

Frankfurt lässt mich so schnell nicht los. Aus der Innenstadt habe ich mich derzeit fotografisch etwas zurückgezogen, dafür fasziniert mich der Frankfurter Stadtwald in seiner Verflechtung mit den Randbezirken, den Autobahnen und dem Flughafen sehr. Und den Main als Nullmeridian der Stadt besuche ich immer wieder. Dort experimentiere ich mit einem etwas größeren Aufnahmeformat und Glas- statt Aluminiumplatten. Wieder geht viel schief und entsteht unerwartet Neues.